Freitag, 25. Mai 2018
Lügen
18. Juni 2010
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So sehr ich alles, was in einem persönlichen Gespräch gesagt wird, wörtlich nehmen können möchte, so sehr steht es jedem, der einen geschriebenen Text liest, frei, diesen für bare Münze zu nehmen oder als reine Erfindung zu betrachten. Lesend kann man keine Rückfragen stellen, dem Schreiber nicht in die Augen sehen und nie wissen, wie etwas gemeint ist.

Schriftliche Texte sind deshalb, obwohl sie gemeinhin als optimale Form des sprachlichen Ausdrucks gelten, letztlich deren schwächste. Das schönste Gedicht, der längste Roman und die schwungvollste vom Blatt gelesene Rede haben eins gemeinsam: Sie haben nie den richtigen Leser oder Zuhörer, weil jeder etwas anderes herauslesen oder heraushören und nie sicher sein kann, dass es so und nicht anders gemeint war.

Jeder geschriebene Satz ist daher potentiell eine Lüge. Beim Roman nimmt man das gerne in Kauf, weil man weiss, dass die ganze Geschichte frei erfunden ist oder sein kann. Das gilt für Prosa, Drama und Lyrik . Bei Autobiografien, veröffentlichten Tagebüchern oder Briefen wird man schon etwas kritischer. Stimmt das wirklich, was der Autor schreibt?

Spätestens bei Briefen ist die kritische Einstellung des Lesers schon so ein relevantes Merkmal der Rezeption, dass es die Frage, was "Literatur" und was Wahrheit ist, besonders häufig aufwirft.

Da alles Geschriebene Literatur ist, müsste sich die kritische Hinterfragung von Texten auch auf Nachrichten, Gesetzestexte, Gebrauchsanleitungen oder Sach- und Fachliteratur erstrecken, also auf Texte, denen man gemeinhin "glaubt".

Umgekehrt ist es völlig unlogisch, ausgerechnet bei "literarischen" Texten nach dem Wahrheitsgehalt zu fragen, wo er doch bei ihnen die geringste Rolle spielt. Hauptsache, die Geschichte liest sich gut und löst beim Leser Heiterkeit, Verständnis oder subjektives empathisches Denken aus. Dazu sind alle Stilmittel erlaubt, solange der Leser sie als solche implizit akzeptiert.

Eins dieser Stilmittel ist die Lüge. Sie wird, wenn sie als Stilmittel sinnvoll eingesetzt wird, verständnisvoll akzeptiert. Allerdings nur, wenn sie am Blattrand endet. Gibt es jenseits des Blattrands Personen, die sich betroffen fühlen, bezeichnen sie nicht nur das Stilmittel sondern gleich die ganze Geschichte als erlogen. Was nichts anderes heisst als dass sie keinen Unterschied mehr machen zwischen "Wahrheit" und Lüge.

Dann wird nicht nur Literatur gefährlich, es wird auch gefährlich für sie. Man misst ihr plötzlich eine Bedeutung bei, die ihr nicht zusteht, ohne dass sie sich dagegen verwehren könnte wie ein Gesprächspartner, der jederzeit in Missverständnisse eingreifen und behaupten kann: "So habe ich das nicht gemeint."

Was ich hiermit allen in meinen Texten vorkommenden Personen sagen möchte: So habe ich das nicht gemeint. Vielleicht so ähnlich. Aber nie genau so.

Man kann es immer auch ganz anders sehen.

Das meine ich wörtlich. Das gebe ich Dir schriftlich.

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